Zunftserhebung und neue Machtstrukturen
Trotz dieser Anpassungsversuche konnte man sich dem allgemeinen Trend der Verfassungsentwicklung in den oberdeutschen Reichsstädten nicht entziehen. Am 23. Oktober 1368 zog 'ain groz folk gewappent uff den Pernlaich und sprachen sie wölten ain zunft haben'. Eine direkte Beteiligung bekannter Kaufmannsfamilien ist nicht erkennbar, nach den Berichten der Chronisten wurde die Aktion im wesentlichen von den 'Handwerken' getragen. Ihre Wortführer waren keine Unbekannten; einige von ihnen, wie der Weber Hans Weiß, der Bäcker Heinrich Burtenbach oder der Kürschner Heinrich Weiß sind mehrfach im Großen Rat bezeugt und besaßen als Steuermeister oder Ungelter sogar Amtserfahrung. Wohl ihrem Verhandlungsgeschick war es zu verdanken, daß die Erhebung unblutig verlief. Die geforderte Zunftverfassung sah eine Beteiligung der gesamten Bürgerschaft an politischen Entscheidungsprozessen vor; sie intendierte allerdings keine individuelle Gleichberechtigung, ein solcher Gedanke war dem Mittelalter weitgehend fremd, sondern korporative Gleichheit, die ihre Legitimation aus dem Gedanken des 'gemeinen Nutzens' bezog. Basis für die politische Organisation der Bürgerschaft wurden die 'Handwerke'; während die größeren Einzelzünfte bildeten, schlossen sich die kleineren zu Sammelzünften zusammen. Strukturell entscheidend war, daß mit der Wahl der Führungsorgane (Zunftmeister, Zunftzwölfer) in den neu entstandenen Zünften auch über die Zusammensetzung des Kleinen und des Großen Rates entschieden wurde. Wahlgremium blieb der Kleine Rat nur für das Patriziat, das kein aktives Wahlrecht besaß, weil es den Zusammenschluß in einer Zunft verweigert hatte, sowie für die Besetzung der Ratsämter und des Gerichts.
Mit Einführung der Zunftverfassung verlor das Patriziat seine offene gesellschaftsständische Struktur und entwickelte sich zum Verfassungsstand der 'Herren', der durch eine Ratssatzung von 1383 auch formal zum Geburtsstand abgeschlossen wurde. Bis zur Patriziatserweiterung von 1538 lassen sich als 'Herren' nur Angehörige von Familien nachweisen, die schon vor 1368 zum Patriziat zählten; Zuwanderer aus fremdem Patriziat mußten, soweit sie keinen Sonderstatus durchsetzen konnten, den Zünften beitreten. Die rasche und friedliche Einigung über die neue Verfassung sicherte dem Patriziat weiterhin eine bedeutende politische Stellung. Die wichtigeren Ratsämter wurden hälftig oder zu einem Drittel mit Patriziern besetzt. Mit 15 Ratsherren stellten sie über ein Drittel der 44 Mitglieder des Kleinen Rates, in dem alle Zünfte mit ihrem Zunftmeister sowie die elf größten außerdem noch mit einem zweiten Mann vertreten waren. Korporative Gleichheit wurde am umfassendsten im Großen Rat realisiert. Da er nur einige Male im Jahr bei besonders wichtigen Anlässen zusammengerufen wurde, spielte hier die Frage der Abkömmlichkeit eine untergeordnete Rolle. In ihm waren - neben den patrizischen Ratsherren - alle 18 Zünfte mit ihren Zunftmeistern und Zwölfern vertreten.
In seiner ursprünglichen Form konnte sich der Verfassungskompromiß von 1368 nicht lange behaupten. Das Patriziat verlor fast die Hälfte der Vertreter im Kleinen Rat der - nachdem 1398 auch die beiden Sitze der aufgelösten Weinschenkenzunft weggefallen waren - nur noch 35 Personen umfaßte. Offensichtlich parallel zur Verringerung der patrizischen Ratssitze hatte sich als weiteres - nun wieder durch den Kleinen Rat gewähltes - Verfassungsorgan der Alte Rat gebildet, in dem das Patriziat mit vier, die sechs großen Zünfte mit je zwei, die restlichen nur mit einer Person vertreten waren. Für den Großen Rat läßt sich - durch verminderte Repräsentanz der mittleren und kleinen Zünfte - ein Rückgang von 249 auf etwa 180-190 Mitglieder erschließen. Die entscheidenden Veränderungen dürften - wie die Reorganisation des Baumeisteramts - 1372 beschlossen worden sein. Nach Umfang und Auswirkungen sind sie fast als Teilrevision der Verfassung von 1368 anzusprechen: Egalitäre Verfassungselemente wurden ausgehebelt, die Unabhängigkeit des Rates wieder verstärkt; das Patriziat erfuhr deutliche Machteinbußen, während sich die institutionelle Position der sechs großen Zünfte der Kaufleute, Salzfertiger, Kramer, Weber, Metzger und Bäcker verstärkte. Als Hintergrund lassen sich innenpolitische Machtkämpfe erschließen, denn zeitgleich verschwanden die Wortführer der Zunfterhebung aus den Schaltstellen der Macht. Abgesehen von Hans Weiß, der 1374/75 noch einmal als Baumeister amtierte, beherrschten ab 1373 hauptsächlich Angehörige großer Kaufmannsfamilien die politische Szene in den Zünften. Allein interne Führungskonflikte dürften aber kaum ausgereicht haben, um solch tiefgreifende Modifikationen der Verfassung im Großen Rat durchzusetzen. Auch andere Faktoren müssen eine Rolle gespielt haben, wobei der Zeitpunkt einen Zusammenhang mit der beginnenden politischen Krise in Schwaben vermuten läßt.
Städtebund und Bistumsstreit
Um die Sicherheit von Handel und Verkehr zu erhöhen, hatte Karl IV. 1370 in Schwaben einen Landfrieden aufgerichtet, an dem sich 31 Städte, darunter auch Augsburg, beteiligten. Wegen Beschneidung ihres Fehderechts schlossen sich daraufhin 1372 verschiedene schwäbische Herren und Ritter in einem Abwehrbund zusammen. Als kurz darauf der Hauptmann des Landfriedens von einigen Adeligen gefangen genommen wurde, begannen die Auseinandersetzungen mit Graf Eberhard von Württemberg, den man für den Drahtzieher hielt. Noch bevor das Augsburger Truppenkontingent eintraf, wurde das Heer der Städte bei Altheim geschlagen. Die Verspätung könnte ein Indiz sein, daß es über die Beteiligung Augsburgs vielleicht zu Kontroversen im Rat gekommen war, die schließlich zu den Verfassungsänderungen führten. Enttäuscht von der indifferenten Haltung Karls IV. im Konflikt mit dem Württemberger und alarmiert durch außergewöhnliche Geldforderungen zur Finanzierung der luxemburgischen Hausmachtpolitik, begannen die schwäbischen Städte 1374 mit Verhandlungen über einen Bund, der ihre Interessen wirksamer zur Geltung bringen sollte, obwohl ein solcher Zusammenschluß durch die Goldene Bulle untersagt war. Die Gründung erfolgte aber erst 1376, als nach der Königswahl Wenzels die Reichsstadt Donauwörth an die bayerischen Herzöge verpfändet wurde. Unter der Führung Ulms schlossen sich 14 Städte zusammen, um durchzusetzen 'daz wir unbescheczit, unverseczit, unverkauft, unheingegebin und by unsern gewonlichin sturre an dem riche blibin mogen'. Der Kaiser sah darin einen Akt des Aufruhrs, erklärte die Bundesmitglieder in die Acht und verkündete den Reichskrieg. Nürnberg und Augsburg hielten sich dem Bund anfänglich fern. Nach erfolgloser Belagerung Ulms führten ihre Vermittlungsversuche 1377 dazu, daß Karl IV. den Bund zwar faktisch duldete, aber keineswegs reichsrechtlich anerkannte. Auf dem Hintergrund erschöpfter städtischer Finanzen erscheint die Außenpolitik der Stadt in diesen Jahren besonders durch Rücksichtnahme auf Bayern geprägt. Erst als sich wegen der schwäbischen Landvogteien ein Konflikt zwischen Habsburgern und Wittelsbachern abzeichnete und letztere auf sechs Jahre eine Allianz mit dem Städtebund schlossen, trat 1379 auch Augsburg dem Bündnis bei. Allerdings standen nun Stadt und Bischof in feindlichen Lagern, da Bischof Burkhard von Ellerbach der im gleichen Jahr gegründeten Löwengesellschaft beigetreten war.
Die Kriegserklärung des Städtebundes 1381 gegen die drei großen schwäbischen Ritterbünde, darunter die Löwengesellschaft, sah Augsburg als Chance für eine innerstädtische 'Flurbereinigung'. Man versuchte, dem Bischof einen Teil seiner verbliebenen Herrschaftsrechte abzunehmen, brach verschiedene bischöfliche und domkapitelsche Gebäude ab und zwang die Geistlichkeit zum Eintritt in das Bürgerrecht. Erst 1383, als die Konflikte mit den Ritterbünden längst beendet waren, gelangten auch Stadt und Hochstift zu einem Vergleich. Der Ausbruch des großen Städtekriegs mündete dann doch in offene Auseinandersetzungen mit Bayern, die Augsburg lange zu vermeiden gesucht hatte. Als Reaktion auf die Wegnahme von Handelsgut durch den mit Bayern verbündeten Bischof beanspruchte die Stadt verschiedene hochstiftische Rechte, darunter das Burggrafenamt. Trotz ihrer exponierten Lage konnte sie sich gegenüber den bayerischen Truppen anfangs erfolgreich verteidigen. Die Entscheidung des Krieges brachte die Schlacht bei Döffingen 1388, die wiederum mit einer Niederlage der Städte endete und schließlich zur Auflösung des Bündnisses führte. Gescheitert war damit auch der Versuch, im städtischen Bereich das Hochstift als konkurrierende herrschaftliche Gewalt auszuschalten: Im Vergleich von 1389 mußte Augsburg auf die usurpierten bischöflichen Rechte sowie auf Einbürgerung und Besteuerung der Geistlichkeit verzichten. Hinzu kamen große Entschädigungszahlungen, durch die sich die Verschuldung der Stadt weiter erhöhte. 1392 folgte die Begnadigung durch den König. Bündnisse mit dem Bischof, denen 1399 auch Herzog Stefan von Bayern beitrat, brachten zumindest außenpolitisch die Rückkehr zur Normalität. Die innenpolitischen Folgen wurden erst mit zeitlicher Verschiebung offenkundig. Die Jahre 1396 und 1397 markieren den Höhepunkt der städtischen Finanzkrise: In beiden Jahren wurde eine Steuer von 2,5 % des Anschlagvermögens gefordert, nur 1377 war mit 3,3 % in Augsburg eine höhere Steuer erhoben worden. Allerdings reichte dies nicht aus; wegen der ungeheuren städtischen Verschuldung sah sich der Rat gezwungen, auch indirekte Steuern als reguläre Haushaltsdeckungsmittel dauerhaft durchzusetzen. Da besonders die Konsumsteuern auf Wein und Bier die einfachen Bürger stark belasteten, kam es 1397 zum offenen Aufruhr. Der 'ewige' Verzicht auf die Erhebung dieses Ungelds gegenüber der Weinschenkenzunft war allerdings nur ein politischer Schachzug. Kaum hatten sich die Wogen etwas geglättet, gelang es der politischen Führung, sich im Großen Rat eine Mehrheit für die Auflösung dieser Zunft zu sichern und so den Widerstand gegen die städtische Finanzpolitik zu brechen. Eine entscheidende Rolle dürfte dabei der Metzgerzunftmeister Ludwig Hörnlin gespielt haben, der 1398 als erster Handwerker in das Amt des Stadtpflegers gewählt wurde.
Gute Jahre und Jahre der Krise
Um die Jahrhundertwende begann in Augsburg ein ungewöhnlich langer wirtschaftlicher Aufschwung, der entscheidend von der Barchentindustrie getragen wurde. 1429 berichtet der Rat, es sei 'das mayste gewerb das wir hie haben mit Barchentten davon sich ein unzälbare volk hie bey uns nerend'. Da Barchent sowohl bei der Rohstoffversorgung wie beim Absatz kein typisch 'regionales' Produkt war, erfuhr auch der Fernhandel eine nachhaltige Ausweitung, insbesondere auf der für Baumwolleinkauf und Barchentvertrieb zentralen Route Venedig-Frankfurt. Der im ausgehenden 14. Jahrhundert von der Barchentweberei ausgelöste strukturelle Wandel der Augsburger Wirtschaft bot besonders Webern vielfältige Chancen des Übergangs zu Verlag und Handel. Aufsteiger aus dieser Zunft wie die Arzt, Ehem, Fugger, Hämmerlin, Meuting und Nördlinger (II) zählten um die Mitte des Jahrhunderts zu den führenden Kaufmannsfamilien, während traditionsreiche Handelshäuser ihre einstige Bedeutung eingebüßt hatten oder gar völlig von der Bildfläche verschwunden waren. Schon 1428 (Hussitensteuerregister) lassen sich in der Weberzunft ca. 30 Mitglieder fassen, die ein Vermögen von mindestens 1000 fl besaßen. Vor ihr lagen nur Kaufleutezunft und Patriziat mit jeweils ca. 50 Reichen in ihren Reihen. Die boomende Barchentindustrie stimulierte auch das Wachstum anderer Bereiche der städtischen Wirtschaft, deutlicher faßbar etwa im Bekleidungs- und im lederverarbeitenden Gewerbe. Als Folge der sich ausweitenden gewerblichen Produktion wuchs die städtische Bevölkerung in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts um fast ein Drittel, während sich im gleichen Zeitraum das von ihr versteuerte Anschlagvermögen mehr als verdoppelte. Obwohl größere Teile der Bevölkerung von diesem Aufschwung wirtschaftlich profitierten, wurde der säkulare Trend zur Vermögenskonzentration nicht gebremst. Eine wesentliche Rahmenbedingung für die Entwicklung der Augsburger Wirtschaft war die städtefreundliche Politik Kaiser Sigismunds. Selbst seine Handelsblockaden gegen Venedig führten zu keinen größeren Turbulenzen, da die Versorgung der heimischen Weber mit Baumwolle offensichtlich nie völlig unterbunden wurde. Auch die politischen Wirren des Bischofsschismas 1413-1424 und die Hussitenkriege blieben wirtschaftlich ohne erkennbare Folgen.
In dieser Zeit läßt sich erstmals die 'Herrenstube', das gesellschaftliche Zentrum der Augsburger Oberschicht, belegen. Die Annahme der älteren Historiographie, daß sie ursprünlich eine rein patrizische Gesellschaft, ein Zusammenschluß der 'Herren' war, findet in den Quellen keine Bestätigung. Der verfassungsrechtliche Status spielte für die Stubenzugehörigkeit offensichtlich nie eine Rolle, eine Situation, die schon dadurch vorgegeben war, daß eine größere Zahl von Patrizierfamilien 1368 geschlossen (z.B. Breyschuh, Menchinger, Pfister, Rehm) oder in Zweigen (z.B. Gossembrot, Hofmaier, Ravensburger, Welser) zu den Zünften übergetreten war. Schon für 1416 läßt sich außerdem nachweisen, daß die Mehrheit der Stubengesellen politisch zu den Zünften zählte. Die Zulassungsvoraussetzungen lassen aber erkennen, daß in der Gesellschaft der Herrenstube die Organisationsstruktur des älteren Patriziats vor 1368 weiterlebte, denn Stubenfähigkeit konnte üblicherweise nicht durch Kauf erworben, sondern nur ererbt oder erheiratet werden. Sonderregelungen galten hauptsächlich für Angehörige des landsässigen Adels. Bis 1457 lassen sich Edelleute, zumeist Söldner in städtischen Diensten, als Stubengesellen nachweisen. In den 1480er Jahren setzte die Mitgliedschaft in der Herrenstube allerdings Bürgerrecht voraus. Frühzeitig erkennbar ist auch die politische Bedeutung der Herrenstube. Wenn 1439 den Bürgermeistern und einigen Ratsherren 'als die uff der Trinkstuben by anander waren' ein offizielles Schreiben des Papstes ausgehändigt wurde, so zeigt dies deutlich, daß die Herrenstube für interne Beratungen der Ratsführung genutzt wurde.
Der zweite Städtekrieg markiert den Beginn einer fast zwei Jahrzehnte dauernden Krisenphase. Zwar wurde Augsburg und sein Umland von den militärischen Aktionen der Jahre 1449-1451 nicht direkt berührt, mittelbar führte der Konflikt jedoch - vielleicht durch ein Zusammentreffen mit anderen Faktoren (z.B. Engpässe bei der Versorgung der Wirtschaft mit Edelmetall) - zu einer nachhaltigen Störung von Handel und Exportgewerbe. Dramatisch entwickelte sich die Situation des städtischen Haushalts. Als Folge der enormen Aufwendungen für die Augsburger Truppenkontingente wurde schon 1451 das Mühlenungeld, die indirekte Steuer auf Getreide, erhöht. Weitere finanzielle Belastungen durch kostspielige Prozesse (Peter von Argon, Heinrich Erlbach) und die Auseinandersetzung mit Bischof Peter von Schaumberg führten 1457 zu einer ersten Finanzkrise. Bald darauf verschärften sich die Konflikte mit Bayern. Als sich die Stadt 1461 auf Druck Kaiser Friedrichs III. am Reichskrieg gegen Herzog Ludwig beteiligte, verwüsteten bayerische Truppen Teile des Augsburger Umlandes. Die Häufung krisenhafter Entwicklungen, verbunden mit wachsenden steuerlichen Belastungen, leiteten über zu einer allgemeinen Vertrauenskrise in die politische Führung. Kritik an der herrschenden Ratsoligarchie wurde immer lauter. Nach Auffassung der Opposition war es 'ein bös, unerbers und unredlichs Regiment' (1462), das die vitalen Interessen der einfachen Bürger nicht berücksichtigte; wie zur Bestätigung konnten einem prominenten Ratsmitglied, dem Altbürgermeister Ulrich Dendrich, Unterschlagungen nachgewiesen werden. Das Ungeld, das gerade in diesen Krisenjahren die Bevölkerung stark belastete, wurde schließlich 1466 zum Auslöser von Unruhen. Der Versuch, diese durch Einsetzung eines Ausschusses politisch zu kanalisieren, schlug fehl, da er sich zur Plattform für eine allgemeine Reformdiskussion entwickelte.