Rätien
(Raetia)
Autor: Prof. Dr. Wolfgang Kuhoff
Stand/Quelle/Datum: 2. Auflage Druckausgabe
- Der von Drusus und Tiberius im Auftrag von Kaiser Augustus 15 v. Chr. geführte Feldzug zur Eroberung des mittleren Alpengebiets und des nördlichen Alpenvorlands richtete sich gegen Räter und Vindeliker. Die bei Horaz und Strabon überlieferten Einzelheiten über den Feldzugsverlauf und die Wohnsitze der beiden Völkerschaften sind zwar nicht erschöpfend, besagen aber, dass die Räter in den Alpen, die Vindeliker hingegen im Alpenvorland siedelten. Das neugewonnene Gebiet, dessen Grenzen sich für die Frühzeit nicht genau bestimmen lassen, wurde zunächst nicht als eigenständige Provinz organisiert, sondern dem gallischen Verwaltungsbereich unterstellt. Da die damalige Bezeichnung ’Raetia et Vindelicia et vallis Poenina’ erweist, dass einige Zeit auch das Wallis zu Rätien gehörte, wird die Einrichtung der Provinz in die Zeit Kaiser Claudius’ (41-54) gehören, in dessen Anfangsjahren diese Gebietsbeschreibung letztmalig belegt ist. Die Verwaltung wurde einem Statthalter aus dem Ritterstand unterstellt, der als ’procurator Augusti’ auch den Befehl über die wenigen kleineren Truppenabteilungen innehatte. Unter den flavischen Kaisern (69-96) wurde die Nordgrenze durch die Anlage steinerner Kastelle als Truppengarnisonen an der Donau verstärkt, es begann aber auch schon das Ausgreifen über den Fluss hinaus, das unter Kaiser Antoninus Pius (138-161) mit der Vollendung des rätischen Limes seinen Abschluss fand. Die Hauptstadt der Provinz Rätien war entgegen älterer Auffassung in den ersten Jahrzehnten wahrscheinlich nicht Augsburg, sondern Kempten (Cambodunum); erst gegen Ende des 1. Jahrhunderts scheint Augsburg (Augusta Vindelic(or)um) an dessen Stelle getreten zu sein, und zwar bedingt durch die Verlegung der Provinzgrenze nach Norden. Von den Markomannenkriegen (166-180) betroffen, erhielt Rätien durch Kaiser Mark Aurel (161-180) zur Verstärkung des Grenzschutzes die 6000 Mann starke Legio III Italica zugewiesen, die 179 in Regensburg stationiert wurde. Zugleich wurde der Rang des Statthalters erhöht, der nunmehr ein aus dem Senatorenstand stammender ’Legatus Augusti pro praetore’ war; zwei von ihnen sind in Augsburg inschriftlich bezeugt. Durch die Einfälle der Alamannen im 3. Jahrhundert wurde Rätien schwer getroffen. Unter Kaiser Gallienus (253-268) ging ein großer Teil der Provinz verloren; erst Probus (276-282) und Diokletian konnten die Lage stabilisieren. Letzterer gründete um 300 auf rätischem Boden die zwei neuen Provinzen ’Raetia prima’ (Hauptstadt Chur) und ’Raetia secunda’ (Hauptstadt Augsburg). Die Zivilverwaltung leitete je ein ’praeses’, während das Militärkommando einem einzigen ’dux’ oblag. Der Vorsteher des kaiserlichen Schatzamtes für ganz Rätien (praepositus thesaurorum) hatte seinen Sitz in Augsburg, eine Abteilung Reiterei (equites stablesiani seniores) lag hier in Garnison. Die Geschichte des römischen Rätien endete um 476 mit dem Untergang des Weströmischen Reiches. Später gehörte es noch für kurze Zeit (ca. 506-526) zum Ostgotenreich Theoderichs des Großen.
- Räterstraße (1973, Göggingen-Nordost, Amtlicher Stadtplan H 11; zuvor: Grimmstraße).
Literatur:
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VII 1,5
CIL III 5793, 5810
V 3936
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