Das neue Gesicht der Stadt und die zweite Blüte ihrer Kunst (1590-1650)
Hundert Jahre nach ihrem ersten Frühling setzt die Augsburger Kunst zu neuer Blüte an. Erstmalig steht der Rat der Reichsstadt an der Spitze der Auftraggeber. Den Auftakt bildeten die drei Prachtbrunnen an zentralen Stellen der Oberstadt mit ihren ursprünglich warmtonig schimmernden Bronzeskulpturen. Hubert Gerhard schuf den Augustusbrunnen auf dem Perlachplatz zum Gedenken des Stadtgründers (1588-1594), Adriaen de Vries zwischen Weberhaus und Schranne den Brunnen mit der Statue Merkurs, des Gottes der Kaufleute, (1596-1599) und vor dem Siegelhaus den Herkulesbrunnen (1596-1602), der die Dienstbarmachung des Wassers durch den Menschen verherrlicht. Anstelle der aufgelassenen Metzg sollte ein zweigeschossiger Loggiabau in Art der Libreria di San Marco in Venedig die Nordseite des Perlachplatzes abschließen. Joseph Heintz lieferte dazu meisterhafte Holzmodelle (Maximilianmuseum), die Ausführung als 'Neuer Bau' erfolgte aber erst 1614 und in vereinfachter Form durch Elias Holl. Dieser, seit 1602 Stadtwerkmeister, wurde der Architekt des neuen Augsburg. Nach dem Gießhaus mit Kanonenbohrturm (1601) und dem Neubau des einsturzgefährdeten Zunfthauses der Bäcker (1602) errichtete er nach Entwürfen von Matthäus Welser und Joseph Heintz das platzbeherrschende Siegelhaus am Weinmarkt (1604-1606, 1809 abgebrochen), dessen hochschwingender Giebel den mächtigen Bronzeadler von Hans Reichle (1606) trug (Maximilianmuseum). Auch Holls Neubau des Zeughauses (1602-1607) erhielt eine von Heintz entworfene, straff gegliederte Schauwand, deren dreiteilige Kolossalgruppe des hl. Michael zwischen zwei Putti im Kampf mit dem Satan Hans Reichles Hauptwerk wurde. 1606 folgte die endlich an den Vorderen Lech verlegte neue Metzg mit einem Bronzewappen von Reichle, 1611 die Barfüßerbrücke nach dem Vorbild der Rialtobrücke in Venedig. Im selben Jahr bereicherte Holl den Platz um den Herkulesbrunnen durch den wohl von Matthias Kager entworfenen Eckbau des Reichsstädtischen Kaufhauses. 1602 schon hatte er im Auftrag des Rates den Turm der Annakirche erhöht, das benachbarte Gymnasium bekam 1613-1616 einen Neubau. Gleichzeitig erhöhte er den Turm der Stadtbibliothek zu einem Observatorium. Beim Um- und Neubau der Stadttore samt Wachhäusern, Brücken und Bastionen verband Holl fortifikatorische Belange mit repräsentativer Form. Das Wertachbrucker Tor wurde 1605, das Klinkertor 1608, das Fischertor 1609, das 'Steffinger Törlein' und das Rote Tor als reifste Lösung 1622 errichtet. Den von seinem Vorgänger Jakob Eschay 1599 vollendeten, ob ihrer Technik berühmten Wassertürmen am Roten Tor stellte er die zierlichen Wassertürme am Gänsbühl und am Jakobertor gegenüber. Sein letztes Werk, die Vierflügelanlage des Heiliggeistspitals samt Kirche (1625-1630), konnte er nicht mehr vollenden.
Holls Name ist vor allem mit dem Neubau des Rathauses (1615-1620) und der Erhöhung des Perlachturms (1614-1616) verbunden. Der aus dem Abhang des Perlachberges frei emporsteigende Baukubus ist mit seinen weithin sichtbaren Giebeln und Türmen eine ebenso selbstverständlich wirkende wie genial durchdachte Meisterleistung der Profanarchitektur. Sein Herz bildet der zwei Geschosse einnehmende Goldene Saal für die offiziellen Empfänge, die Reichshandlungen und die Sitzungen des Großen Rats, umgeben von den vier 'Fürstenzimmern' für die Reichstage. An der Ausstattung (1619-1624) wurden die besten damals in Augsburg ansässigen Künstler beteiligt, die Bildhauer Christoph Murmann d.Ä., Kaspar Meneler, Hans Leonhard Gemelich und Christoph Angermayer, der Gießer Wolfgang Neidhart, die Schreiner Hans Schertlein d.J., Lorenz Bayer, Wolfgang Ebner, die Maler Hans Rottenhammer, Matthäus Gundelach, Hans Freiberger, Johann König und der Stadtmaler Matthias Kager, der die Leitung der Gesamtdekorationen innehatte und für die Deckenbilder des Goldenen Saales Entwürfe von Peter Candid verwendete.Kager und Freiberger wurden 1610/11 vom Rat beauftragt, die drei inneren Stadttore, die nicht mehr der Verteidigung dienten, mit Historien vornehmlich aus der Vergangenheit der Stadt und allegorischen Darstellungen zu bemalen, nachdem Holl sie zuvor, soweit möglich, zu großen Bildwänden umgebaut hatte. Schon 1605/07 hatte Kager die Fassadenmalereien des Weberhauses, das, wie die anderen Großzunfthäuser, seit 1548 der Stadt gehörte, geschaffen. 1610 richtete Holl auf dem Straßenplatz vor der evangelischen Ulrichskirche als Denkmal des römischen Ursprungs der Stadt die 'Steinerne Stadtpier' oder 'Columna' auf, die Joseph Heintz entworfen und Christoph Murmann ausgeführt hatte. Das neue Augsburg mit all seinen aktuellen Veränderungen zeigt der große 1626 von acht Kupferplatten gedruckte Vogelschauplan Lukas Kilians, den dieser dem Rat der Stadt widmete.
Zu den Ruhmestaten des Rats gehörten schließlich seine Bemühungen, namhafte Künstler, fast immer gegen den Protest der Zünfte, zur dauernden Niederlassung in Augsburg zu bewegen, anstatt die Großaufträge an auswärtige Kräfte vergeben zu müssen. Joseph Heintz aus Basel erheiratete sich 1598 das Bürgerrecht. Matthias Kager aus München erhielt 1603 Bürger- und Handwerksrecht in kürzester Frist. 1607 folgte Hans Rottenhammer samt Frau aus Venedig, 1611 Matthäus Gundelach aus Prag, 1614 Hans König aus Rom. 'Aus Bewilligung meiner Herren des Rats aus Gnaden' empfing der Maler Christian Steinmüller 1616 das Bürgerrecht, nachdem ihn die Zunft zuvor wegen unerlaubter Arbeit gestraft hatte. 1625 wurde mit Georg Petel aus Weilheim einer der bedeutendsten deutschen Bildhauer als Meister zugelassen, weil 'dergleichen Künstler zue vnd nit von der Stadt zue promovieren sein'. Gegenüber den Aktivitäten der Reichsstadt scheint die kirchliche Kunsttätigkeit wenig ins Gewicht zu fallen. Wie aber die katholische Partei schon bei der Vergabe des Augustusbrunnens, beim Skulpturenprogramm des Zeughauses oder dem Bildprogramm des Goldenen Saals - Berater war der Jesuit Matthäus Rader - ihr Recht auf Mitsprache angemeldet hatte, so wußte sie sich bei der um 1590 einsetzenden Restauration der Kirche des Dienstes der Kunst zu versichern. Ihre stärkste Stütze fand sie wieder im Mäzenatentum der Fugger. In ihrem Auftrag malen Schwarz, Candid, Rottenhammer, Hans von Aachen oder Kager die Altarbilder, auf denen die Muttergottes über der Stadt Augsburg oder hoch in den Wolken schwebt. Giovanni Lanfrancos riesiges Hochaltarblatt von 1625 für die Dominikanerkirche (München-Nymphenburg, Christkönigskirche) oder das 1627 bei Rubens in Antwerpen bestellte Altarbild in Heilig Kreuz bestimmen den Typus des katholischen Hochaltargemäldes mit der Himmelfahrt Mariä für fast eineinhalb Jahrhunderte. In St. Ulrich und Afra waren die Bauarbeiten um 1560 bereits wieder aufgenommen und um 1603, im wesentlichen nach dem alten Plan, abgeschlossen worden. Im Chorbereich entstand durch die drei riesigen Schnitzaltäre Hans Deglers (1604, 1607) um den Kreuzaltar mit der majestätischen Bronzegruppe von Hans Reichle (1605) ein vielszeniges Theatrum sacrum entsprechend den Hauptfesten des Kirchenjahres. Typisch für Augsburg erscheint die volkstümliche Zurschaustellung eines wiedererstarkten Katholizismus, der in seiner Selbstgewißheit sogar auf konfessionelle Polemik verzichten kann.
1589 wurde die kleine St. Galluskirche mit einem feingliedrigen Stuck- und Terracottaschmuck erneuert, 1594 die Margarethenkirche. Elias Holl erbaute 1603/05 über ovalem Grundriß die Michaelskapelle auf dem katholischen Friedhof. Die Fugger stifteten in der Jakobervorstadt die Franziskanerkirche zum Heiligen Grab, heute St. Maximilian, wahrscheinlich nach einem Entwurf Jakob Dietrichs 1611-1613 ausgeführt. Dabei ist bemerkenswert, daß ein großer Teil der kirchlichen Aufträge an protestantische Künstler (z.B. Holl) ging, während andererseits die Katholiken (z.B. Petel) unbedenklich für die Protestanten arbeiteten.
Neben Reichsstadt und Kirche zählten die Fürsten und vornehmen Herren, die Kenner und Sammler zu den wichtigsten Kunden der einheimischen Werkstätten. Selbst der 30jährige Krieg mit seinen verheerenden Folgen für die Stadt konnte die steigende Nachfrage nicht unterbrechen. Der Patrizier Philipp Hainhofer, der als Diplomat, Kunstagent und Sammler mit den europäischen Höfen, mit Prag, Wien, Warschau, Kopenhagen, Braunschweig oder München in Kontakt stand, besorgte, vergab und überwachte die großen Aufträge an die Augsburger Künstler. Die kaiserlichen 'Verehrungen' an die Türkische Pforte wurden zumeist über die Reichspfennigmeister, Zacharias Geizkofler vor allem, den Augsburger Goldschmieden, Uhrmachern und Instrumentenbauern zugeleitet. Ähnliche Vergabefunktion übten die immer unentbehrlicher werdenden Silberhändler und Silberkrämer aus, Arnold d.Ä. und Christoph Schanternell, Philipp Holbein, Hans Pfleger oder Philipp Warmberger. Noch 1644 hatten die Goldschmiede so viele Aufträge, daß - nach Hainhofer - 'die kunstreichen Meister, dergleichen nit bald in anderen Städten zu finden sein, nit wissen, wie sie in Hosen stecken und sich wie die Herren halten'.
Höhepunkte der Gemeinschaftsleistung Augsburger Künstler bildeten die vielbewunderten Kunstschränke. 24 Meister hatten an dem nach siebenjähriger Arbeit 1617 fertiggestellten 'Pommerschen Kunstschrank' (ehemals Berlin) für Herzog Philipp II. von Pommern-Stettin gearbeitet. Weitere Kabinettschränke haben sich in Florenz, Uppsala und Amsterdam erhalten. Noch 1646, in der schlimmsten Zeit des Krieges, lieferte der Kunsttischler Melchior Baumgartner ein solches Gemeinschaftswerk, einen großen Elfenbeinschrank mit Lapislazulifüllungen, an den Münchner Hof (Bayerisches Nationalmuseum). Die Mehrzahl dieser Kunstmöbel bestand aus teurem Ebenholz, das seit 1626 - ähnlich den Silberarbeiten und Prunkharnischen - nach der Prüfung durch die Geschaumeister mit zwei Stempeln gegen Fälschung zu sichern war. 1615 gab es in Augsburg 185 Goldschmiede, 122 Kistler, 50 Schlosser, 48 Bortenwirker, 44 Uhrmacher, 34 Maler. Zu den Goldschmieden kamen 106 Gesellen hinzu, ferner 22 Wappen-, Siegel- und Stempelschneider mit neun Gesellen. 1619 werden außerdem elf Steinschneider, drei Diamantenschneider, sechs Rubinschneider, 29 Maler und 38 Briefmaler gezählt.
Spätestens mit der Einnahme Augsburgs durch die Schweden 1632, im Grunde aber schon mit der Verkündigung und Durchführung des Restitutionsedikts 1629 endeten die goldenen Jahre der Augsburger Kunstgeschichte. Das dem evangelischen Gottesdienst überlassene Predigthaus bei St. Georg wurde 1629, die evangelische Heilig-Kreuz-Kirche 1630 abgebrochen, die übrigen evangelischen Kirchen vom Rat gesperrt. Holl wurde aus Glaubensgründen 1631 ehrenvoll aus dem Amt entlassen. Kager, der zeitweilig Bürgermeister war, verlor 1632 seine Ämter und wurde mit anderen katholischen Ratsmitgliedern der Konspiration verdächtigt. Sein protestantischer Vorgänger, der Goldschmied Christoph Lenker, erhielt unter den Schweden sein Amt zurück, um es 1635 erneut zu verlieren. Kager und Petel starben 1634 an der Pest, die Maler König, Steinmüller und der jüngere Joseph Heintz verließen Augsburg. Hainhofer, der 1635 seiner Ämter enthoben wurde, mußte seine Kunstsammlung verkaufen, andere Kunstkammern fielen der Plünderung zum Opfer oder gingen in den Kriegsereignissen unter. Die anschaulichste Darstellung der Schrecken des Krieges verdanken wir der Radierungsfolge des 'guet katholischen' Malers Hans Ulrich Franck, der 1638 unter Protest der Zunft und unter Protektion des nun wieder ausschließlich katholischen Rats von Kaufbeuren nach Augsburg übersiedelte.