Stadtgericht
(Reichstadt)
Autor: Dr. Peter Geffcken
Stand/Quelle/Datum: 2. Auflage Druckausgabe
- Das Mittelalter war gekennzeichnet durch eine große Zahl von Gerichtsständen und vielfältige Überschneidungen von personalen und räumlich-funktionalen Zuständigkeiten. Kleriker waren von der weltlichen Gerichtsbarkeit ausgenommen: Sie unterstanden dem geistlichen Gericht, das aber funktional (z. B. im Bereich des Eherechts) auch für Laien zuständig war. Angehörige der kirchlichen ’familiae’, der leib- oder grundherrlich gebundenen Hörigenverbände, waren den Hofrichtern der geistlichen Institutionen zugeordnet, deren Kompetenzen aber durch das Hochgericht des Vogtes (Vogtei) beschnitten wurden, in dessen Zuständigkeit besonders die peinliche Strafgerichtsbarkeit fiel. Seinem Gericht zugeordnet waren die kirchlichen Zensualen und die in Augsburg lebenden Freien. Außerdem gab es eine funktionale Zuständigkeit des Vogtgerichts für Eigen und Erbe und des Burggrafengerichts für Gewerbe- und Schuldsachen. Auf dem Hintergrund einer zunehmenden Erosion der Hörigenverbände gewann nach Übernahme der Hochstiftsvogtei durch die Staufer (1167) das Vogtgericht rasch an Bedeutung. Die Gerichtsgemeinde des in seiner Augsburger Präsenz nicht mehr auf die drei ’Echtedinge’ beschränkten staufischen Vogts wurde zur Keimzelle der Bürgergemeinde, der ’universitas civium’. Auffälligerweise sind Konflikte mit dem bischöflichen Stadtherrn bzw. zwischen Vogt- und Burggrafengericht bei diesem Prozess nicht überliefert. So scheint die Erwähnung des bischöflichen Burggrafen Liupold als königlicher Vogt (1233) Indiz für die Ausformung eines ’städtischen’ Gerichts zu sein, das mit einem bestimmten Kreis von Urteilern je nach Sachlage entweder unter Vorsitz des Vogtes oder des Burggrafen tätig wurde. Das Stadtrecht von 1276 bestätigte den Grundsatz, dass beide nur ’nach der Burger Urteil’ Recht sprechen durften. Der Kreis der Urteiler war noch nicht genauer definiert; es gab aber ein qualitatives Quorum: Kam ein Urteil ohne Mitwirkung von Ratsherren zustande, konnte die Streitsache unter Umständen an den Rat gezogen werden. Fassbar wird dies auch in den Formeln der älteren Gerichtsbriefe, die regelmäßig auf die Präsenz von Ratsherren verweisen. Die königliche Verleihung des ’ius de non evocando’ (1294) stärkte die Position des Stadtgerichts. Eine strukturelle Zäsur markiert die Neuordnung des Gerichts nach Einführung der Zunftverfassung: Die nun als ’geschworene Richter’ bezeichneten Urteiler lassen sich als vom Rat gewähltes, in seiner Größe definiertes Kollegium fassen. Nach der Ordnung von 1368/69 wurde das Gericht mit 12 Personen (vier ’Herren’, acht Zünftler) besetzt, die regulär zwei Jahre amtierten. Parallel vollzog sich eine funktionale und personale Entflechtung von Rat und Gericht, was sich auch im Formular der Gerichtsbriefe niederschlug. Der Rat beschränkte seine Zuständigkeit auf besonders schwierige Fälle sowie die peinliche Gerichtsbarkeit und entwickelte sich zur Appellationsinstanz. Wer in das Gericht gewählt werden konnte, war anfangs nicht formal geregelt, Trends sind aber erkennbar. Seit 1406 galt in der Praxis ein Kumulationsverbot von Rats- (Kleiner und Alter Rat) und Richteramt; letzteres entwickelte sich häufig zur Vorstufe für Ratskarrieren. Die zünftischen Richter wurden zumeist aus den Mitgliedern des Großen Rats gewählt. Erst nach der Verfassungsreform von 1466 wurde diese Praxis aber konsquent eingehalten. Die patrizischen Richter gehörten keinem Verfassungsgremium an, da die Ratsherren hier die Sitze im Großen Rat belegten. Wohl schon im 14. Jahrhundert erlangten die Weber- und die Kaufleutezunft eine Sonderstellung und stellten regelmäßig je einen Richter, ab 1417 war letztere sogar mit zwei Personen im Gericht vertreten. Die Verfassungsreform von 1476 beendete die Vorrangstellung einzelner Korporationen, auch die ’Herren’ stellten nicht mehr, wie 1368/69 festgelegt, vier, sondern nur noch einen Richter. Für die Besetzung der nun elf zünftischen Sitze wurden die 17 Zünfte in drei Rotten unterteilt, die jeweils eine bestimmte Zahl von Richtern stellten; Ansprüche einzelner Zünfte auf Vertretung im Gericht entfielen. Nach dem Sturz von Ulrich Schwarz wurden diese Regelungen modifiziert. Ab 1482 stellten die ’Herren’ wieder zwei Richter, seit 1483 war die Kaufleutezunft durchgängig, die Weberzunft vereinzelt mit zwei Richtern im Kollegium vertreten. 1493 näherte man sich bei der Wahl der zünftischen Richter wieder dem Modus vor 1476. Kaufleute- und Weberzunft besetzten nun wieder regulär drei (2:1) Richtersitze; die 15 anderen Zünfte teilten sich in die sieben übrigen. 1519 wurde das Richterkollegium auf 20 Personen erweitert: ’Herren’ und Kaufleutezunft stellten weiterhin zwei, die restlichen 16 Zünfte je einen Richter. Die Einführung der Karolinischen Regimentsordnung brachte eine erneute Veränderung. Bis zum Ende der Reichsstadt fungierten nun 16 Assessoren als Beisitzer, wobei sich eine Besetzung mit zehn Patriziern und je zwei Vertretern der Mehrer, von Kaufleutestube und Gemeinde etablierte. Wohl um mangelnde Rechtskenntnisse des Richterkollegiums zu kompensieren, hatte schon die Gerichtsordnung von 1368/69 die Mitwirkung der Bürgermeister an der Urteilsfindung vorgesehen. Wegen Amtsbelastung wurden an ihrer Stelle dann Ratsherren delegiert, für die sich die Bezeichnung ’Oberster Richter’ einbürgerte. Ihnen stand das ’erste Urteil’ zu. Nach vielfältigen Experimenten gelangte man 1519 zu der Regelung, dass vier Ratsherren gewählt wurden, die jeweils ein Vierteljahr als Oberster Richter fungierten. Da Vogt und Burggraf in ihren Funktionen zunehmend beschnitten wurden, entwickelten sich der ’Oberste Richter’ allmählich zum Leiter der Verfahren. Nach 1548 fungierte als Oberster Richter immer ein patrizischer Ratsherr. Entlastung erfuhr das ordentliche Gericht durch zwei schiedsgerichtsähnliche Gremien: die ’Ainunger’, die für Beleidigungen und leichte Raufhändel, sowie die ’Klagschatzer’, die für kleinere Schuldsachen zuständig waren. Diese Gremien wurden mit bestimmten Quoten durch Mitglieder des Rats und des Gerichts besetzt. Auch hier ergaben sich in Zusammenhang mit den Verfassungsreformen von 1466 und 1476 Änderungen, bis 1482 (mit teilweiser Rücknahme der Modifikationen) eine für die Ära der Zunftverfassung endgültige Regelung des Besetzungsmodus erfolgte. Nach 1548 scheinen diese Aufgaben dem für summarische Verfahren zuständigem Bürgermeisteramt zugeordnet worden zu sein.
Literatur:
Das Stadtbuch von Augsburg insbesondere das Stadtrecht vom Jahre 1276, 1872, 59, 73 f., 234-239, 266-269, 334
Eugen Liedl, Gerichtsverfassung und Zivilprozeß der Freien Reichsstadt Augsburg, 1958
Ingrid Bátori, Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert, 1969
Jörg Rogge, Für den gemeinen Nutzen. Politisches Handeln und Politikverständnis von Rat und Bürgerschaft in Augsburg im Spätmittelalter, 1996.